von Peter von Bagh (finn. Filmhistoriker)
DER MANN OHNE VERGANGENHEIT fügt der Geschichte, die
bereits in Wolken ziehen vorüber Zuschauer in der ganzen Welt
bewegte, einen weiteren Aspekt hinzu. Ohne Verbitterung zeichnet
Kaurismäki das Bild eines kleinen Landes im Norden, anrührend,
unterhaltsam und befreiend. Zu Beginn dieses neuen Films von Kaurismäki
wird ein Mann (Markku Peltola), der auf Arbeitssuche nach Helsinki
gereist war, ausgeraubt und zusammengeschlagen, verliert sein Gedächtnis
und muss ganz von vorn anfangen. Er findet die Liebe (Kati Outinen)
und ist gezwungen Werte zu entdecken, derer man sich nicht zu schämen
braucht. Eine kleine Geschichte über Menschen, die noch wissen,
was Menschlichkeit bedeutet und ein großartiges Filmereignis.
Die Motive, von klarer Schönheit, sind auf unglaublich reiche
Art und Weise durch die Regie in Szene gesetzt. Bei der kühnen
Wahl seiner stilistischen Ausdrucksmittel wagt der Autor viel -
und gewinnt. Spätestens seit Juha (1999), "dem letzten
Stummfilm des 20. Jahrhunderts", wissen wir, dass Aki Kaurismäki
einer jener seltenen Portraitisten der "Grenzgebiete"
ist, zwischen urbanem und ländlichem Leben, dem privilegierten
Teil der Klassengesellschaft und den Randgebieten Finnlands, die
zur Anonymität verdammt sind.
Kaurismäkis Portrait der Unterdrückten ist gekennzeichnet
durch Würde (weder kitschig noch schwermütig), Humor,
einem Schuss Melancholie (dem Stil Charlie Chaplins nicht unähnlich)
und einem außergewöhnlichen Verständnis für
das Los seiner Figuren. Ein Los, das meist unweigerlich nach "unten"
führt, das aber auch die Möglichkeit rebellischer Freuden
und persönlicher Freiräume bietet. Ein Schicksal, auf
das man auch stolz sein kann, da Macht und Herrschaft scheinbar
sonst Alles und Jeden korrumpieren. Ethos und Stil Kaurismäkis
erinnern stark an die Arbeiten anderer großer Regisseure,
die, ebenso wie Aki Kaurismäki, durch ihre präzise Ausdrucksweise
und ihren Stil ihren grenzenlosen Respekt gegenüber dem Menschen
zollten, in jeder einzelnen Einstellung, nur mit Hilfe der filmischen
Mittel des Kinos. Aki Kaurismäki hat einen Film geschaffen,
dessen gewagte und mitreißend reiche Palette an Formen, Farben
und Ausdrucksmitteln einen ausgezeichneten Sinn für traditionelles
finnisches und europäisches Kino erkennen lässt, und einen
stilistisch mutigen Schritt markiert.
DIE WELT VON AKI KAURISMÄKI hat einen hohen Wiederer- kennungswert
im gegenwärtigen Kino: ein Land namens Finnland am Rande Europas
und die nicht enden wollende Reise der Finnen aus den ländlichen
Gebieten in die Städte, dem europäischen Niemandsland
und Schauplatz der derben Farce der modernen Bürokratie, die
sich als die uns Allen gemeinsame Tragödie entpuppt, die kaum
jemand so gelungen und mit feinsinnigem Humor in Szene zu setzen
vermag wie Aki Kaurismäki. So gesehen eine optimistische Tragödie
und ein Autor, der um die einfachen Dinge des Lebens weiß,
deren Verständnis so erstaunlich selten geworden ist: Nächstenliebe,
Solidarität und die Einsicht, dass finanzieller Mangel nicht
jeden automatisch zum Vollidioten macht, und deshalb jedes menschliche
Wesen Würde besitzt. Kaurismäki ist es gelungen unverfälscht
darzustellen, wie im Herzen einer Wohlstandsgesellschaft de facto
eine unterentwickelte Region entsteht, wie Realität und Existenz
dort tatsächlich aussehen, und nicht wie sie in "den Medien"
reflektiert werden.
Die Filme Aki Kaurismäkis kann man willkürlich in drei
oder vier verschiedene Typen unterscheiden. Zum einen die "Klassiker",
die in Hamlet Goes Business und Das Leben der Bohème gipfeln,
die Filme Kaurismäkis, die seine Auseinandersetzung mit den
immer noch aktuellen und im übertragenen Sinne lebendigen Gesprächspartnern
Shakespeare und Henri Murger fortsetzen. Des Weiteren die witzigen
Road-Movies Leningrad Cowboys Go America, der schlicht absoluter
Kult ist, und der Geniestreich Tatjana: das Wochenende eines finnischen
Arbeiters, das sich gleichzeitig in einer erfundenen Vergangenheit
(den 60er Jahren), einer realen Welt und einem märchenhaften
Finnland, eingeschlossen zwischen Ost und West, abspielt.
Und dann gibt es da noch diese wunderbaren Filme, die sogar international
gesehen zu den letzten scharfsinnigen Beschreibungen der Arbeiterklasse
und des Arbeiters selbst gehören. Nichtssagendes Mainstreamkino
und Unterhaltungsbrei haben gemeinsam das "wundersame Verschwinden"
dieser Spezies bewirkt, so, als würde der einfache Mensch gar
nicht mehr existieren. Umso mehr stellt die Arbeiter-Trilogie (Schatten
im Paradies, Ariel, Das Mädchen aus der Streichholzfabrik)
in unserer gesichtslosen Spaßkultur Europas ein kostbares
Geschenk dar. Die poetischen Grundwahrheiten in Wolken ziehen vorüber
(1996) berührten die Herzen des Publikums in ganz Europa. "Ich
könnte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich
jetzt keinen Film über Arbeitslosigkeit machen würde",
erklärte Aki Kaurismäki damals seine Themenwahl. Nach
Der Mann ohne Vergangenheit, dem neuen Film Kaurismäkis, wird
deutlich, dass Wolken ziehen vorüber den Beginn einer weiteren
Trilogie markierte.
Anfang 1994 ließen die Redakteure der monatlichen Magazinbeilage
von Helsingin Sanomat, der größten finnischen Tageszeitung,
ausgewählten Personen der Öffentlichkeit folgende Frage
zukommen: "Was ist der Sinn des Lebens?" Die Frage war
völlig ernst gemeint, denn die Fragenden waren Grundschulkinder
- und in diesem Alter treibt man keine Scherze mit den ernsten Dingen
des Lebens. Viele der Gefragten reagierten schlicht perplex, aber
eine Antwort stach aus allen anderen hervor: "Der Sinn des
Lebens besteht darin, einen persönlichen Moralkodex zu entwickeln,
der die Natur und den Menschen respektiert, und schließlich
- ihn zu leben." Die Antwort von Aki Kaurismäki - und
eine Erklärung dafür, warum Der Mann ohne Vergangenheit
uns, das Publikum, auf die Ebene wahrer Menschlichkeit hebt.
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